„Eh, Lehrling. Geh mal zum Chef und hol das vernickelte Augenmaß. Wenn er es nicht findet, dann sag ihm, es liegt beim Werkzeug in der Seifenschachtel, ganz unten drunter.“ Genauso und in Hunderten von Variationen werden Lehrlinge, im Neudeutschen auch Azubis und Azubinen genannt, schlichtweg „veräppelt“. Genauso haben aber auch unzählige Azubis und Azubinen diese „Verarsche“ über sich ergehen lassen müssen. Wenn sie auf solche Sprüche hereingefallen sind, handeln sie sich den Spott aller Beteiligten und Unbeteiligten ein. Haben sie jedoch nachgedacht und erkannt, dass sie hereingelegt werden sollten, ernten sie Anerkennung. Dann wissen ihre Kolleginnen und Kollegen, dass ihr Lehrling nicht so leicht zu überrumpeln ist. Vor allem weiß sie oder er, dass man auch als Azubi nicht alles widerspruchslos über sich ergehen lassen muss und dass das eigene Mitdenken verlangt wird. Es gehört zu jeder Ausbildung und fördert bis zu einem gewissen Grade auch das Kennenlernen der Werkzeuge und Materialien. Zugegeben – Kolleginnen und Kollegen, die solche Ausbildungsrituale inszenieren, sind natürlich auch ein bisschen enttäuscht, wenn ihr Schuss ins Leere gegangen ist.

Weshalb gibt es diese Rituale?

Der Verfasser dieses Blogartikels ist Handwerksmeister und hat mehr als vierzig Jahre aktiv auf der Baustelle als Lehrling, als Geselle, als Vorarbeiter und später als Meister gearbeitet. Deshalb kann er besonders in der Handwerkssparte diese Rituale besonders gut einschätzen. In allen anderen Branchen von der Industrie und dem Verwaltungssektor bis hin zum Gaststättengewerbe, zu Bundeswehr und zum Zivildienst sind die Rituale ähnlich. Ist es im Handwerk die Bohrmaschine mit Knotenhobel, dient in der Großküche die Stahlleine zum Aufhängen der Sauerkrautfäden. Zugegeben, der Spruch ist banal – Kolleginnen und Kollegen von Azubis sind auch nur Menschen. Ihr Berufsalltag ist manchmal trist genug, und mit solchen kleinen „Frotzeleien“ der Azubis lässt er sich ein klein wenig auflockern. Hantiert der Schlosser den ganzen Tag lang mit einem Winkelschleifer, ist jede Abwechslung willkommen.

Der Lehrling schaut ihm bei seiner Arbeit über die Schulter, und der Schlosser überlegt schon fast zwangsläufig, wie er dessen Mitdenken herausfordern kann. Dann schickt er ihn nach dem Schleiföl. Ob der Lehrling mitdenkt und feststellt, dass Öl beim Schleifen völlig fehl am Platze ist? Logisch – ganz zu Beginn der Lehre wird fast jeder Azubi das Schleiföl oder die Stahlleine holen wollen. Schließlich kann er nicht unbedingt bereits den Zusammenhang herstellen, dass es diese Dinge nicht geben kann. Vielleicht ist er angesichts der Berufserfahrung seines Ausbilders oder seiner Ausbilderin auch gehemmt und traut sich nicht nachzufragen. Mit jedem Monat der Lehre wächst jedoch die eigene Erfahrung hinsichtlich der Werkzeuge und Materialien. Dann sollten solche Rituale zunehmend ins Leere laufen.

Ein praktisches Beispiel aus dem Elektrohandwerk

Der Verfasser dieses Blogartikels hat seine Lehre zum Elektriker in einem Zehnmann-Handwerksbetrieb absolviert. Folgende kleine Geschichte zum Schmunzeln, abseits von Bohrhammer, Schwingschleifer & Co., ist dem nach ihm gekommenen Lehrling passiert: Unser Meister kommt in die Werkstatt und spricht ihn an: „Geh mal rüber zu Schlossermeister Leuschner. Er soll dir mal eine Büchse Amperefett geben.“ Mit ernster Miene drückt er ihm fünf Mark in die Hand. „Sag ihm einen schönen Gruß von mir. Er soll dir bitte eine Quittung ausschreiben.“ Unser Lehrling nimmt die fünf Mark entgegen. Ganz sicher ist er sich nicht. Das sieht man ihm an, und ich muss mir ein Schmunzeln verkneifen. War das unkollegial? Sollte ich ihn als Selbst-noch-Azubi warnen?

Dazu wird es sicher unterschiedliche Meinungen geben. Die Schlosserei ist nur wenige Minuten zu Fuß entfernt. Nach circa 20 Minuten kommt er zurück und hält tatsächlich eine kleine Blechbüchse in der Hand. Die gibt er unserem Meister und überreicht ihm die gewünschte Quittung über fünf Mark. Der Chef ist perplex. Was ist Überraschendes passiert? Schlossermeister Leuschner hatte selbstverständlich den Braten gerochen. Er wollte aber auch seinem Handwerkskollegen, mit dem er sehr gut befreundet ist, einen Denkzettel mitgeben. Sie tauschten schon immer Werkzeuge aus, die der Andere benötigte, und halfen sich mit Zuarbeiten. Also hatte er ein wenig altes, stinkendes Schmierfett in die Blechbüchse gefüllt, die Quittung ausgeschrieben und unseren Lehrling damit zurückgeschickt. Ob der Chef seine fünf Mark zurückbekommen hat, kann ich nicht sagen.

Seit wann gibt es diese Rituale?

Darauf kann es keine verbindliche Antwort geben. Ausbildungsinitiationsriten, wie sie gemäß einer Quelle von Wikipedia genannt werden, sind sicherlich mindestens so alt wie das Handwerk. In der Verwaltung und in der Industrie können sie noch nicht so alt sein, denn die Industrialisierung begann erst viel später. Heutige Verwaltungen und Bürogroßeinrichtungen sind noch jünger. Im Handwerk waren Lehrlinge völlig schutzlos ihren Lehrherren ausgesetzt. Sie mussten all das erfüllen, was der Meister ihnen vorgab. Dazu gehörten sogar die Arbeiten im Haushalt der Meisterfamilie, die niemand gern erledigen wollte. Solche Ausbeuterei war auch früher schon nicht gern gesehen. Nutzte der Handwerksmeister seine Lehrjungen und Lehrmädchen über Gebühr aus, konnte er durchaus von seiner zuständigen Handwerkszunft zur Ordnung gerufen werden. Eines galt aber auch damals schon – jeder Lehrling sollte bei seinem Lehrherren fundierte Kenntnisse über Werkzeuge und Materialien erlernen. Er sollte erlernen, wie diese Dinge benutzt und verarbeitet wurden. Er sollte aber auch sein erlerntes Wissen in Kreativität umsetzen und mitdenken. Immerhin stellten auch damals schon jedes Lehrmädchen und jeder Lehrjunge die Zukunft im jeweiligen Handwerk.

Einige Worte zum Begriff „Ausbildungsinitiationsriten“

Ein schlecht auszusprechendes Wort, welches jedoch einiges an Gehalt bietet. Vor allem taucht darin der Begriff „initiieren“ beziehungsweise „Initiative“ auf. Mit solchen Riten sollen also Inhalte der Ausbildung initiiert werden. Können sie das? Jede Frotzelei, die nicht diskriminiert oder einen/eine der Beteiligten benachteiligt, fördert das gemeinschaftliche und gegenseitige Verhältnis. Sie bringt Auflockerung in den Arbeitsalltag und wird oft genug zur Erheiterung, an der letztlich alle Einbezogenen ihren Spaß haben. Wird der Kochlehrling nach der Hummerschusspistole geschickt, wird er oder sie schon überlegen, was für ein Werkzeug sich hinter diesem Begriff verbergen wird. Schließlich wird kein Hummer erschossen, sondern im heißen Wasser ermordet. Der oder die Verwaltungsangestellte wird während der Ausbildung erlernen, was „Aktiva“ und „Passiva“ bedeuten und dass sie sich möglichst die Waage halten sollen.

Also werden sie nach der Bilanzwaage geschickt. Gibt es dieses Werkzeug? Wohl kaum! Ein weiteres Beispiel ist die Stornoschere im Versicherungsgeschäft. Stornos sind hier ein großes Ärgernis, denn dann entfällt die Provision. Also werden hier Azubis von Zimmer zu Zimmer im Großbüro geschickt. Alle Eingeweihten haben diese Stornoschere gerade ausgeliehen und verweisen auf die nächste Abteilung. Schließlich erbarmt sich einer von ihnen und schickt die Azubis mit einer alten, stumpfen Schere zurück. Alle haben ihren Spaß gehabt, und auch die Azubis werden die vergeblichen Wege verschmerzen können. Sie haben erfahren müssen, dass sie „verääpelt“ worden sind und werden zukünftig besser aufpassen. Also wurde mit diesem Spaß bei ihnen ein Lernprozess initiiert.

Wie weit dürfen solche Ausbildungsrituale gehen?

Ganz bestimmt werden sich jeder Azubi und jede Azubine ärgern, wenn sie Werkzeuge besorgen sollten, die es gar nicht gibt. Ein wenig ärgern sie sich zunächst über Diejenigen, die sie aufs Glatteis geführt haben. Dieser Ärger ist aber meist schnell verflogen, wenn sie feststellen, dass sie sich an der allgemeinen Erheiterung besser beteiligen sollten. Insgeheim ärgern sie sich viel länger über sich selbst, dass sie sich in Unwissenheit oder Nachlässigkeit auf das Glatteis begeben haben. Dennoch müssen solche Rituale immer im Bereich des „Geschmackvollen“ bleiben und dürfen beispielsweise nicht hinterhältig sein. Im Handwerk ist ein Fall bekannt geworden, in dem der Lehrling nach dem Bogenlot geschickt worden war. Er sollte im Baucontainer danach suchen und gleich noch die Handkreissäge mitbringen. Plötzlich stand er im Dunkeln, weil einer seiner Kollegen hinter ihm den Container absichtlich verriegelte. Was er nicht wissen konnte – der Lehrling litt unter Verfolgungsängsten und geriet in Panik. Er verletzte sich schwer und war monatelang krankgeschrieben. Gegen den Kollegen ermittelte die Staatsanwaltschaft und er wurde verurteilt.

Gibt es Unterschiede der Rituale in verschiedenen Branchen?

Wieder sind wir beim Handwerk, denn hier sind die Möglichkeiten, Azubis zu veräppeln, besonders ausgeprägt. Manchmal sind sie derb, ein anderes Mal besser durchdacht und anspruchsvoller. Wird der Tischlerlehrling nach einem Bogenhobel geschickt, muss er sich schon selbst hinterfragen, welchen Sinn ein solches Werkzeug machen soll. Schließlich hat er bereits erlernt, dass er einen Hobel benutzt, um gerade Flächen herzustellen. Was soll also ein Bogenhobel darstellen? Im Handwerk, und hier besonders auf der Baustelle, geht es häufig ziemlich rustikal zur Sache. Das bringen bereits die Umstände mit sich, denn fast jede Baustelle ist ein Provisorium. Hier ist häufig keine Heizung vorhanden wie in einer Werkstatt und die Beleuchtung wird über Baustellenstrahler hergestellt.

Von jeder Ecke dröhnt ein anderes Baustellenradio und die Luft ist von Staub und einem Mix unterschiedlicher Gerüche durchzogen. Das sind nur vier Beispiele von vielen, mit denen sich das Baustellenhandwerk von anderen Berufsgruppen unterscheidet. Dementsprechend fallen auch die Rituale etwas deftiger aus. Die Bundeswehr und auch der Zivildienst sind bekannt dafür, dass alle Neuankömmlinge in den ersten Wochen ständig veräppelt werden. Die Rede ist nicht von Ritualen, welche die Menschenwürde verletzen, sondern von Späßen, die eine Anregung zum Mitdenken geben sollen. Weit verbreitet ist beispielsweise, einen Jungsoldaten nach dem Südkompass zu schicken. Schwieriger wird es schon beim Panzerband, um den Stahlkoloss zusammenzukleben. Solches Panzerband, allerdings für andere schwere Klebearbeiten, gibt es tatsächlich. Auch der Schlüssel für die Panzerhauptschraube ist kein Werkzeug, sondern eine Erfindung. In der Verwaltung, im Bankenwesen und in der Versicherungswirtschaft beinhalten derartige Ausbildungsrituale häufig bereits Bezüge zur Ausbildung. „Gibst Du mir mal die Steuerschraube bitte“. Körperlich vorhanden ist dieses Ding nicht, aber fast jeder Mensch kennt den Begriff, dass wieder einmal an der Steuerschraube gedreht wurde. Auch der Niederschlagungshammer ist keines der Werkzeuge, die im Finanzamt vorhanden sind. Vielmehr werden hier Rückstände per Saldo niedergeschlagen.

Ausbildungsrituale setzen sich manchmal in der täglichen Arbeit fort

Nahezu jeder Handwerker kennt den Siemens Lufthaken. Es ist durchaus möglich, dass früher so mancher Lehrling nach diesem Teil geschickt wurde. Inzwischen hat sich dieser Begriff jedoch so eingeprägt, dass er häufig gebracht wird. Er kennzeichnet Situationen bei der täglichen Arbeit, bei denen eine Befestigung von Geräten und Bauteilen besonders schwierig ist. Hier hilft kein Schlagbohrer oder Akkuschrauber, sondern der Siemens Lufthaken steht für besondere handwerkliche Fertigkeit, um dieses Problem zu lösen.

Auch der Draufhobel ist ein typischer Begriff. Hat der Geselle die Hobelmaschine zu intensiv verwendet und zu viel Holz abgehobelt, werden seine Kollegen spotten, dass er das Problem nur mit dem Draufhobel lösen kann. Früher hat man im Tischlerhandwerk damit den Lehrling veräppelt. Besondere Aufforderung der Azubis zum Nachdenken gibt es beim Herstellen von Bohrlöchern. Bewusst wird aus dem Bohrer-Steckbrett der 6er Bohrer entnommen, und nun soll der Lehrling ausgerechnet 6er Löcher bohren. Wie soll er das bewerkstelligen, wenn dieser Bohrer fehlt? Der Geselle empfiehlt ihm, zwei 3er Bohrer zu verwenden. Ob der Lehrling den Spaß erkennt und hinterfragt?

Fazit

Ausbildungsrituale dieser Art, die auch Ausbildungsinitiationsriten genannt werden, wird es zu jeder Zeit geben. Sie dürfen nur nicht verletzen oder diskriminieren. Dann dienen sie der allgemeinen Erheiterung und fördern den kollegialen Zusammenhalt. Azubis erlernen dabei, mitzudenken und sinnvolle Werkzeuge zu erkennen. Sie lernen, zu entscheiden, dass der Spannungsabfalleimer nur Quatsch sein kann, aber dass ein Werkzeug wie die Wasserwaage ohne Ersatzblasen tatsächlich existiert.

 

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